Mittwoch, 16. März 2011

Das Haar des Propheten von Salman Rushdie

Der reiche Erbe Atta besucht unbedacht mit einer Menge Geld das verruchteste Virtel der Stadt Srinagar um einen Einbrecher anzuheuern. Nachdem man ihn in immer dunklere Gassen gelockt hat, wird er lebensgefährlich zusammengeschlagen.

Die Nacht brach herein. Unbekannte Hände packten an und trugen seinen Körper zum Rand des Sees, von wo aus man ihn mit einer Shikara über das Wasser brachte und ihn, zugerichtet und blutend wie er war, am verlassenen Ufer der Kanals ablegte, der zu den Gärten von Shalimar führte. Als am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ein Blumenverkäufer sein Boot über das Wasser ruderte, dem die nächtliche Kälte die trübe Konsistenz von wildem Honig verliehen hatte, entdeckte er die hingestreckten Umrisse des jungen Atta, der gerade erst angefangen hatte sich unter Stöhnen zu bewegen, und auf dessen nun leichenhaft blasser Haut unter einer nun echten Schicht Rauhreif noch immer schwach der Schein des Reichtums auszumachen war.

Der Blumenverkäufer vertäute sein Boot und, indem er sich nah über den Mund des Verwundeten beugte, gelang es ihm die Adresse des armen Kerls herauszufinden, die dieser ihm durch seine kaum mehr beweglichen Lippen zuraunte; daraufhin ruderte der Straßenhändler, in der Hoffnung auf ein beträchtliches Trinkgeld, Atta nach Hause zu einem großen Anwesen am Ufer des Sees, wo ihn eine wunderschöne, jedoch unfassbar zugerichtete, junge Frau und ihre aufgelöste, aber ebenfalls hübsche Mutter, die beide keinen Schlaf gefunden hatten, wie man an ihren Augen ablesen konnte, beim Anblick ihres Atta – er war der ältere Bruder der jungen Schönheit - einen Schrei ausstießen, wie er reglos inmitten der grabesgleich verkümmerten Winterblüten des hoffnungsvollen Floristen lag.
Der Blumenhändler bekam in der Tat eine ansehnliche Belohnung, nicht zuletzt um sich seines Schweigens zu vergewissern, und kommt in dieser Geschichte nicht weiter vor. Atta nun fiel in Folge der schweren Unterkühlung und eines gebrochenen Schädels ins Koma, welches selbst die besten Ärzte der Stadt nur hilflos mit den Schultern zucken ließ. Daher war es umso überraschender, dass am Abend ein zweiter unerwarteter Gast den heruntergekommensten und verruchtesten Teil der Stadt beehrte. Es war Huma, die Schwester des unglückseligen jungen Mannes, und sie fragte ebenso wie ihr Bruder mit ebenso leiser, ernster Stimme: „Wo kann ich einen Dieb verdingen?“

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